Werk.

27.12.2000 · Text.

Ein Weg aus der Verdrängung.

TAZ, Die Tageszeitung. Silvester 2000/Neujahr 2001. 27.12.2000

Immer wieder donnerstags, beim politischen Flanieren durch die Straßen von Wien, scheint es Marlene Streeruwitz, als wäre ein Neuanfang möglich. (TAZ)

27.12.2000

Vom Balkon im obersten Stock des Hotel Bristol fotografiert ein Mann. Er reagiert nicht auf Winken. Er fotografiert weiter. In der Taubstummengasse drängen sich Partygäste an den Fenstern in der Belletage. Sie halten die Hände neben die Gesichter, um in die Dunkelheit hinaussehen zu können. Auf die Straße hinunter. Auf die Demo. Wir winken hinauf. Die Menschen treten zurück. Rasch. Ein Haus weiter. In einer Wohnung weit oben. Jemand dreht das Licht an und ab. Zwei Mal lang. Ein Mal kurz. Wi – der – stand. Wir pfeifen mit den Lichtsignalen mit. Zwei Mal lang. Ein Mal kurz.

Vorher. An der Ecke Prinz Eugenstraße und Theresianumgasse. Die Polizei hatte den Zugang zur türkischen Botschaft versperrt. Es war der zweite Tag der Überrennung der Gefängnisse durch das Militär in der Türkei. Während der Zug wegen dieser Sperre stockte und sich nicht gleich in die Theresianumgasse lenken ließ, begann der ältere Herr auf dem Gehsteig zu randalieren. Wir sollten aufhören. Er rief das wütend und entsetzt. Nasalierend im feinsten Oberschichtwienerisch beschwor er immer wieder die Rechtlosigkeit der Straße. Und daß es immer so begonnen hätte. Auf die Frage, warum ihn denn eine Demonstration so aufrege, da warf er den Kopf zurück und reißt die Arme in die Höhe. „ Ihr haltet den Verkehr auf!“ Und. Beim Autofahren. Da handle es sich ja schließlich auch um ein Recht. Und. Wir sollten uns schämen. Dann ging er davon. Angeekelt.

Es geht nicht immer so väterlich rügend ab. Es gab schon Kübel Wasser, die über die Demonstranten ausgeleert wurden. In den engen Gassen des 8. Bezirks ist das wirkungsvoll. Oder hinter dem Westbahnhof. Dafür wurde da auch immer freundlich zurückgewinkt. Von den Migrantenfamilien, die da wohnen. In der Lange Gasse gibt es immer eine rote Fahne aus einem Fenster. Lichtsignale. Und Hupkonzerte im Widerstandstakt. Und dann wieder einmal die brennende Zigarette heruntergeschleudert. Und „Ihr Arschlöcher“ hinterdrein. Aber das war im Sommer. Mit den offenen Fenstern und der langen Dämmerung. Die Schanigärten entlang. Ein paar setzten sich hin. Auf ein Achterl. Ein paar andere kommen mit.

Jetzt im Winter kommuniziert es sich nicht so leicht. Es sind auch nicht mehr so viele, die am Donnerstagabend gehen. Jedenfalls nicht mehr die 10.000e vom Februar. Beim Warten. Bei der Botschaft für besorgte Bürger. Da, wo der Ballhausplatz und der Heldenplatz zwischen Volksgarten und dem josephinischen Trakt der Hofburg zusammentreffen. Da sieht es jetzt lange so aus, als käme diesmal niemand. Und dann reicht der Zug auf dem Ring doch von der Mariahilferstraße bis zum Volksgarten zurück. Und die melancholischen Kinder ziehen wieder durch die Straßen.

Wir gehen. Und die Polizei riegelt den Verkehr ab. Leitet um. Hält auf. Marschiert mit oder voraus. Damit die melancholischen Kinder kein Verkehrschaos anrichten. Oder gar vor die Botschaft der USA wandern. Oder vor die türkische, wie vorige Woche. Und wie in der netten Kernfamilie wird das widerspenstige Kind an der lange Leine gehalten. Immer in der Hoffnung, das Kind fände von allein in die Ordnung zurück.

Darum geht es. Es geht um Ordnung. Es geht um die Ordnung außen. Um die öffentliche Ordnung. Diese Regierung ist auf demokratischem Wege zustande gekommen, heißt es da. J. Haider habe sich zurückgezogen. Alles ginge mit rechten Dingen zu. Das stimmt dann ja auch. Die Normalisierung scheint mir ziemlich abgeschlossen. Die Normalisierung, die eine Entpolitisierung ist, hat die Gegenkultur von rechts ganz selbstverständlich in den öffentlichen Text eingearbeitet. Die Medien funktionieren schon wieder wie immer. Begriffe wie Gesinnungsgemeinschaft oder Inländerfeindlichkeit oder pragmatische Abtreibungsdebatte oder Sexualtäterkastration beschreiben politischen Alltag. Und fraglos so.

Im Wahlkampf in Wien finden sich Wahlkampfaussagen der Freiheitlichen, die das „Ausländer Raus“ nun als „Kampf  um einen Einwanderungsstop“ umformuliert, sich aber im „Kampf gegen Drogendealer“ 1000 Nigerianern machtlos gegenübersieht, das aber wiederum mit einem „Kampf um mehr Sicherheit“ bekämpfen will und deshalb der Polizei zur Verhaftung von „100 Drogendealern, der überwiegende Teil aus Schwarzafrika“ vorerst einmal gratuliert. In diesem öffentlichen Text wird nur noch von Kampf gesprochen. Als befände Wien sich in einem Belagerungszustand. Als müßten übermächtige Kräfte von außen abgewehrt werden. Von solchem Geschrei verdeckt, wird in Politik und Wirtschaft rasch vollendet, worin Österreich – waren das die Sozialpartner? – einen Schritt hinter der übrigen Welt hinterher hinkte. Unter der Überschrift Globalisierung wird Struktur bereinigt und fusioniert und immer gläubig genickt zu allen Wirtschaftsnotwendigkeiten. Das ist natürlich hier nicht anders als überall. Aber hier ist es mit diesem fahrlässigen, nie geänderten Sprachgebrauch verbunden. Da gibt es zum Beispiel eine Rechtssprache, die nie verändert weiterhin eine autoritäre Umschreibung von Wirklichkeit ermöglicht. Da ist die Sprache der Politik, die nie verändert, schlimmste Aussagen ein bißchen umformuliert, die weiter das Schlimmste meint, und niemand regt sich mehr auf. Da sind die Mediensprachen, die sich schon immer das anything goes ein Anliegen sein ließen. Da liegt ein öffentlicher Text vor, der alle Kunstgriffe jeder Avantgarde usurpiert hat und benutzt. Auch das ist hier nicht anders als überall. Aber hier wird dieses Gebrauchsdada in der Politik zur populistischen Wahrheit in aller Provinzialität.

In diese Ordnung soll zurückgefallen werden. Oder zurückgekehrt. Die melancholischen Donnerstagsgeher und Geherinnen sollen so lange durch die Stadt ziehen, bis sie es begriffen haben. Oder es ihnen zu blöd wird. Weil sie etwas anderes zu tun haben. Oder etwas besseres.

Eine besonders perfide Form der Erziehung ist das freundlich lächelnde Abwarten der Erzieher, bis der oder die zu Erziehende es selbst herausgefunden haben. In amerikanischen Fernsehserien stehen die Kinder dann vor den Eltern und gestehen, daß die Eltern recht gehabt hätten. Dann dürfen sie die Eltern umarmen. „I love you“ „I love you too“ Und wieder ist eine perfekte Demütigung ganz nebenbei gelungen. Ist das die Erwartung unseres Bundeskanzlers, vor dessen Büro sich jede Wochen ein paar 1000 Menschen versammeln und ihrer Ablehnung so Gestalt verleihen. Gibt es diesen elterlichen Tagtraum vom Eingeständnis des Kindes, es falsch gemacht zu haben, in dem die Eltern sich so schön bestätigen können. Warum nicht. Bundeskanzler zu sein, garantiert noch keine kitschfreien Tagträume.

Während also nun das Establishment auf diesen Augenblick der Selbstaufgabe wartet. Oder auf die Selbstauflösung  weil niemand mehr zu den Demos kommt. Oder noch besser auf einen Grund wartet, einmal durchzugreifen. Währenddessen gibt es ja auch noch den Ruf nach innerer Ordnung. Rufe nach einem Programm wurden laut. Nach Sprachregelungen. Nach Organisation. Nach Durchorganisation. Aber. Es gibt weiterhin kein Alpha Tier und es gibt keinen Alpha Text. Es gibt keine Sprachregelung. Es gibt keine Organisation. Wenn ich vom Heldenplatz am Donnerstag abend aufbreche, dann gehe ich hinter keiner Parole her. Hinter keiner Fahne. Ich ordne mich in keinen Sprechchor ein. Zwei Mal lang. Ein Mal kurz. Wi – der – stand. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Antirassismus und das ist eine Menge in diesem Land.

Mein Lieblingstransparent wird von einer jungen Frau getragen. An einem Besenstiel ist der Boden einer Bananenkiste geklebt. „Gegen die tägliche Beleidigung“ steht auf dem Karton. Mit diesem Spruch geht es über den Ring am Parlament vorbei die Josefstädterstraße hinauf. Oder um den Ring zur Börse. Es wird schnell gegangen. Es wird viel geredet. Und dazwischen gepfiffen.

Die Straßen sehen anders aus von der Straßenmitte. Die Häuser fallen ganz anders über einen und die Alleen haben einen Himmel. Von der Straßenmitte ist der Verfall zu sehen. Die Ketten von geschlossenen Geschäften. Die Straßenzüge, die schon die Überlebensversuche mit den Sexshops hinter sich haben. Mit den 10 Schilling Läden. Den Asialäden und den Schnitzelhäusern. Die Stadt hat einen anderen Klang. Von der Straßenmitte und ohne Autoverkehr. Und jedesmal bei diesem Gehen in der Straßenmitte ist es so, als könnte von vorne begonnen werden. Als wäre ein Neuanfang möglich. Als könnte mit dem politischen Denken neu begonnen und alles gedacht werden, was bisher immer vorgesagt worden war. Diktiert. Im Gehen durch die schöneren oder schäbigeren Straßen ist der Ausdruck für ein politisches Hier und Jetzt zu finden, das sich in diesem Wust von politischem Text zumindest darstellen läßt. In diesen Gängen und Wanderungen durch die Stadt . In diesem politischen Flanieren ist eine basale politische Existenz ausgedrückt. Und zumindest Angstlosigkeit. Zuerst einmal für jeden und jede. Zwanglos. Das ist nur ein Hauch von Anarchie. Aber immerhin ein Weg aus einer weiteren Verdrängung und durchaus nicht landesüblich.