Werk.

29.12.2015 · Kolumne.

In der Midmanhattan Public Library.

LiteraturEN Das Literaturmagazin. SWR2.
Erstveröffentlichung: 29.12.2015

In der Midmanhattan Public Library auf der 5th Avenue steht „Literatur“ nicht mehr angeschrieben. Dafür ist ein ganzes Stockwerk für Computerbenutzung eingerichtet worden. Das Wort „literature“ wird nur noch in der Bedeutung „Fachliteratur“ verwendet. Es gibt Lyrik. Es gibt Prosa. Es gibt Drama. Aber es gibt das Wort „Literatur“ als Kategorie des Fiktionalen nicht mehr. In der Midmanhattan Public Library. Draußen spazieren die Touristen und Touristinnen und inspizieren ihre persönliche Vorstellung von New York. Das Touristische kann sich leisten, pragmatisch vorzugehen. Es ist genug Geld da, die eigenen Vorstellungen von der Welt zu überprüfen und zum Beispiel mit so einem Besuch von New York die fiktionalen Vorstellungen an der eigenen Erfahrung zu überprüfen. Drinnen. In der Public Library. Da sitzen die, die sich einen solchen Vergleich nicht leisten könnten. Armut löst zwar sicher viele Phantasien eines fiktionalen Lebens aus. Aber. Diese Fiktionalität soll ein Ziel herstellen. Ein Glaube muß das sein, daß es eine Änderung geben kann. Für die glaubende Person. Eine Überprüfung wie das die Touristen und Touristinnen machen, wenn sie ihre Erwartungen an ein Ziel wie New York mit der Wirklichkeit dieses Ziels vergleichen. Eine solche Überprüfung wird dem Mittellosen verweigert. Lotto. Gewinnspiele. Reality Shows. Wetten aller Art. Automaten. Ideologien. Reichtum ist möglich. Reichtum wird versprochen. Aber eine kleine Reise in den Reichtum, damit einer oder eine sich anschauen kann, ob sie oder er überhaupt reich sein wollen. Einen solchen Tourismus gibt es nicht. Die Zugehörigkeiten sind nach Besitz streng getrennt. Eine Segregation ist das, die in der Midmanhattan Public Library die Literatur als Gesamtheit der literarischen Werke zum Verschwinden gebracht hat und die Fiktion vom Aufstieg durch Lernen an die Stelle der Kulturleistung literarisches Kunstwerk setzt. Das ist verständlich. Die Unterhaltungsindustrie hat in den USA immer schon die Fiktion von der Möglichkeit des Aufstiegs durch erlerntes Können hergestellt. In allen Genres der Unterhaltungsindustrie geht es um Lernen. Um Bildung nie. Bildung kostet Männlichkeit. Das wird in sehr erfolgreichen TV Serien immer wieder vorgeführt, in denen das ungebildete Blondchen lebenstüchtiger als so ein theoretischer Physiker oder Psychotherapeut vorgeführt wird. Es ist niemandem zu verdenken, sich von einem Computerkurs eine Verbesserung seiner oder ihrer Situation zu versprechen und das Lesen der „Brüder Karamazov“ einmal hintanzustellen. Obwohl ein Roman von William Faulkner dem Computerkursteilnehmerinnen die Kluft zwischen Versprechungen und gelebter Realität vorführen könnte. Da hat sich nichts geändert. Im Gegenteil. So aber. Ohne den Einspruch des Literarischen. Ohne Texte, in denen alle Textelemente nur auf sich selbst verweisen und nicht im Dienst irgendeines Profits stehen. Ohne Texte, denen die Absicht mitgegeben ist, ausschließlich als Modell zu existieren und damit zwecklos zu sein. Ohne Texte, die aber gerade in dieser Zwecklosigkeit Sinnstiftung entwickeln und unverwechselbar mit nichts vertauscht werden können. Ohne solche Texte hat die Macht gewonnen. Die Macht. Sie bedient sich aller Mittel des literarischen Texts. Aber. Sie verfolgt Absichten. Da geht es um Verkaufen und in diesem Verkaufen ist gleich der Verkauf der Lebensentwürfe mitenthalten. Eine Fiktionalität wird da benutzt, die eine Wirklichkeit verspricht. Das Leben selbst wird zum Material dieser Fiktionalität gemacht. Und weil man oder frau das Leben nicht zuschlagen kann, wie einen Roman oder einen Gedichtband. Oder die Theateraufführung verlassen. Deshalb bleibt diese pragmatische Fiktion aufs Leben angewandt unüberprüfbar. Leben vergehen in der Hinwendung auf die so vermittelten Ziele. Und wie im Dienstmädchenroman der Unterhaltungsindustrie des 19. Jahrhunderts wird der Graf, der mittels Heirat die lebenslängliche Versorgung in materieller und emotionaler Hinsicht verspricht. Es wird dieser Graf nicht auftreten und es bleibt bei den Glücksversprechungen von Lotto. Gewinnspielen. Reality Shows. Wetten aller Art. Automaten.

Die fiktionsgenerierenden Ideologien treiben die Glückssuchenden in das Stockwerk für die Computerkurse. Die Literatur ist verdrängt. Die, die am Tag draußen völlig unnewyorkerisch schlendern haben für die Nacht ihr Hotelzimmer. Die, die am Tag in der Public Library drinnen sitzen. Sie haben für die Nacht oft nur einen Einkaufswagen, den sie in Bryant Park hinter einem Busch versteckt halten.