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25.08.2016

Wahlkampfroman 2016. “So wird das Leben.” 4. Folge.

Wahlkampfroman 2016.

So wird das Leben.

Vierte Folge.1

Evelyn hatte dann wieder nach Graz zurückfahren müssen. Evelyn wollte Kostüm- und Bühnenbildnerin werden. Sie machte gerade ein Praktikum bei einem Weltmeisterfriseur in Graz, und sie durfte nicht länger von da wegbleiben. Vroni hatte gemeint, daß Evelyn ja ohnehin nichts bezahlt bekam und daß sie deshalb über ihre Zeit verfügen könne. Evelyn hatte nur gelächelt. Wenn sie eine Bestätigung für dieses Praktikum haben wollte, dann mußte sie ihre Arbeit da erledigen, hatte sie gesagt, und war nach Graz zurückgefahren.

Vroni war dann allein in der Wohnung vom Onkel Franz gewesen. Toni hatte bedauert, über den Tag nicht bei ihr bleiben zu können. „Ich kann da nicht lernen.“ hatte er gesagt und Vroni hatte ihn verstehen müssen. Als Zwillingsschwester verstand sie ihn ja ohnehin immer.

Vroni war dann doch langweilig geworden. Zuerst hatte sie nach unterhaltsamen Büchern gesucht, aber der Onkel Franz hatte nur eine Wand mit den deutschen Klassikern in der Golddruckausgabe von Meyers Klassiker-Ausgaben in 150 Bänden. Vroni dachte, daß alle 150 Bände in Onkel Franzs Bücherkasten standen. Sie blätterte in den Büchern herum und stellte fest, daß schon damals holzfreies Papier verwendet worden war. Dann hatte Vroni Angst bekommen, etwas Privates vom Onkel Franz zu finden und hatte zu stöbern aufgehört. Sie hatte begonnen, die Kunstbände aus der untersten Reihe herauszuziehen, da war ihr das alte Schulbuch in die Hände gefallen. „Wir lernen lesen“ stand da. „Ein Erstlesebuch für Schulanfänger“. Die Bilder waren von demselben Zeichner, der auch das Schulbuch von ihrem Vater nach 1945 gezeichnet hatte. Vronis und Tonis Vater war bei einem Autounfall gestorben. Da waren sie beide 9 Jahre alt gewesen. Die Bücher ihres Vaters waren die einzige Erinnerung an ihn. Die Mutter hatte den Bücherkasten vom Vater so gelassen wie er gewesen war. Alle anderen Dinge von ihm waren im Lauf der Zeit weggeschafft worden. Das Schlafzimmer der Eltern war für Toni und Vroni in zwei Zimmer geteilt worden und nur ein paar seiner Pokale von Schwimmmeisterschaften standen noch auf der Kommode im Schlafzimmer der Mutter.

Vroni trug ihre Hand immer noch in einer Schlinge. Die Schmerzen machten sie müde und trotzdem unruhig. Sie nahm die Parkemed-Tabletten aber nur noch höchstens fünfmal am Tag.

Vroni dachte, daß sie diese Schulbücher vergleichen sollte. Sie schaute das Erstlesebuch aus dem ostmärkischen Landesverlag, Wien 1942 genau an. In dem Schulbuch aus der Nazizeit hatte jemand das Bild des Führers zerkritzelt und seinen Namen aus dem Papier herausgekratzt.

Da kam dann gerade der Installateur wieder in die Wohnung. Die Frau von der Hausverwaltung hatte angerufen und Vroni gebeten, den Installateur in die Wohnung zu lassen. Sie habe mit dem Dr. Kaindlinger gesprochen und der wolle auch, daß wegen des braunen Flecks alles so genau wie möglich untersucht werden solle. Vroni und Toni hatten alle gebeten, dem Onkel Franz nichts von dem Überfall zu erzählen. Der Onkel Franz war 77 Jahre alt und sie wollten nicht, daß er Angst haben solle. Toni hatte mit ihm geredet und der Onkel hatte gelacht. „Dieser Chrobath.“ hatte er gesagt. „Der ist doch selbst der braune Fleck.“

Vroni mußte den Installateur aber dann doch durch die Tür fragen, wie die Hausverwaltung hieße, von der er geschickt worden sei und beim Aufsperren der Schlösser hatte sie doch wieder diese Angst. Der Installateur rief von draußen, daß er der Mehmed von der Hausverwaltung sei. und daß sie dort anrufen solle, wenn sie Angst habe. Er habe von dem Überfall gehört. Vroni hatte dann ein dummes Gefühl, daß sie den Mann so lange draußen warten hatte lassen. Sie führte den Mann zum Badezimmer und immer noch verlegen wegen ihres Mißtrauens fragte sie den Mann, woher er denn käme. „Ich bin Österreicher.“ sagte der Mann. Vroni sagte „Aber…“ „Ja“, meinte der Mann. „Der Vorname. Meine Eltern sind aus Bosnien geflüchtet, aber ich bin hier geboren.“ Vroni wollte sagen, daß ihre Mutter auch aus Slowenien käme, aber dann fiel ihr ein, daß die Slowenen den Zerfall Jugoslawiens verursacht hatten, und sie sagte nichts. Sie drehte sich weg und ging ins Wohnzimmer zurück. Immer war gleich alles so mißverständlich.

Sie starrte gerade auf die Seite des Volksschulbuchs mit dem Titel „Ich werde ein Soldat.“, da kam dieser Mehmed an die Tür. „Ich habe alles überprüft.“ sagte er. Er sah neugierig auf das Bild des Führers im Buch und schüttelte den Kopf. „Das habe ich gerade gefunden.“ sagte Vroni entschuldigend. „Mein Großonkel muß das als Schulbuch gehabt haben.“ Mehmed sagte nichts. „Ich studiere Gechichte. Wissen Sie.“ Der Mann schaute sie fragend an. „Ich will wissen, wie es zu dem allem kommen konnte.“ sagte Vroni verzweifelt über das Mißverständnis. „Die lügen doch sowieso immer alle.“ lächelte Mehmed verständnisvoll. „Uns gibt es doch für die ohnehin nicht. Schauen Sie sich doch an, wie das jetzt wieder bei den Volkswagenwerken läuft. Die kleinen Leute sind nichts wert. Aber ich gehe jetzt. Sperren Sie sich gut ein.“

Dann ging er. Vroni hörte, wie er die Tür zufallen ließ, aber sie war zu müde, zur Tür zu gehen und abzusperren. Vroni saß auf dem Sofa. Ihre verletzte Hand lag schwer in der Schlinge, und sie starrte auf die letzten Sätze des Kapitels „Der Führer feiert Geburtstag.“ „Jeden Tag denken wir an ihn.“ stand da. „Wir wollen brave, tüchtige Menschen werden und ihm nur Freude machen.“

Da mußte Vroni weinen. Sie mußte die ganze Zeit an Meran denken. Sie hatte Meran dann nicht mehr gesehen. Toni hatte ihn getroffen und Toni hatte ihr erzählt, daß Meran in die USA weitergereist war und nur für sie noch einmal nach Wien gekommen war. Meran hatte das Visum in die USA sofort benutzen müssen, bevor sich wieder etwas an den Visabestimmungen änderte und er wieder nicht aus der Türkei herauskommen hätte können. Meran hatte sich auch gleich wieder aus Chicago gemeldet. Vroni hatte eine Telefonnummer und sie konnten auch wieder mailen. Aber sie hatte ihn nicht gesehen und das alles wegen dieser Leute und wegen dieses Chrobath und seiner Uhrensammlung. Vroni schluchzte. Ihr Zwerchfell schlug immer wieder gegen die Hand in der Schlinge. Es tat weh, und die großen Schmerzen vom Anfang kamen ihr in Erinnerung. Da wurde Vroni aber plötzlich sehr wütend, und sie setzte sich wieder auf. Sie ging an ihren laptop und begann zu suchen. Es war mühsam mit einer Hand zu tippen, aber dann hatte sie alles.

Vroni rief Frau Fischer an. Die wußte nichts, aber sie rief für sie einen Bekannten an, der in dem Betrieb arbeitete, in dem der Dr. Chrobath im Vorstand gewesen war. Der mußte noch jemanden anrufen, der mehr über den Dr. Chrobath wußte. Am Ende wußte Vroni, daß der Dr. Chrobath entweder in der Burschenschaft der Teuto-Wanen Mitglied war oder bei der Albinia Viennensis. Sie suchte die Adressen der Verbindungshäuser heraus. Sie würde diesen Mann mit dem Baseballschläger ausfindig machen. Wahrscheinlich wollte der auch so ein braver, tüchtiger Mensch werden und den alten Herren in seiner Verbindung nur Freude machen.

Vroni machte sich auf, diese Verbindungshäuser anzuschauen. Vroni wurde noch wütender, weil alles wegen der verletzten Hand so lange dauerte. Dann war die Angst aber doch wieder da und Vroni mußte dreimal nachschauen, ob sie die Türschlüssel auch wirklich in ihrer Handtasche hatte. Dreimal mußte sie zur Tür zurück und nachprüfen, ob die Schlösser versperrt waren. Dann wieder konnte sie nicht in den Lift einsteigen. Sie stand vor der Lifttür und wollte nicht in diese winzige Kabine hinein. Vroni beschimpfte sich dafür, aber es half nichts. Beim Hinuntergehen kam sie an der Tür von dem Chrobath vorbei und sie hatte kurz Lust, die Tür einzutreten. Sie ging aber langsam weiter. Sie konnte sich wegen der Hand nicht bewegen wie sie wollte. Sie mußte vorsichtig sein. Beim Hinuntersteigen fiel ihr ein, daß sie jetzt an diese Tat denken mußte wie das in dem Nazibuch für die Gedanken an den Führer reklamiert worden war. Die ganze Zeit mußte sie an ihre Verletzung denken. Vroni mußte lachen. Das war doch wie es in diesem Buch geheißen hatte. „Jeden Tag denken wir an ihn.“ Dann war doch dieses Denken an den Führer als würde es sich um eine Verletzung handeln, die sich selbst dauernd in Erinnerung brachte. Sie mußte lächeln. Da war es schon besser, verliebt zu sein und dauernd an Meran zu denken. Da war es sogar besser, unglücklich verliebt zu sein.

Auf der Straße war es dann aber wieder sehr schwierig. Vroni hatte große Sorge, jemand könne gegen ihre Hand stoßen. Sie ging auch lieber zu Fuß in die Hölderlinstraße als sich in die Straßenbahn zu drängen. Da war das Verbindungslokal der Teuto-Wanen.

Die Hölderlinstraße 66 war ein schmales Haus aus dem 19. Jahrhundert. Neben der Tür war das Wappen der Teuto-Wanen angebracht. In den vier Feldern des Herzwappens waren gekreuzte Schläger, die aufgehende Sonne, Eichenlaub und eine Leier zu sehen. Vroni seufzte. Die Bedeutung dieser Symbole sollte sie als Geschichtsstudentin herausfinden, aber manchmal war es schwierig, die Kraft dafür aufzubringen. Im Schulbuch vom Onkel Franz hatte sie gelesen „Und auf der Schulter trage ich ein richtiges Gewehr. Dann wohne ich nicht mehr bei Vater und Mutter daheim, sondern in der großen Kaserne draußen vor der Stadt.“ So ein Verbindungsheim war ja auch nichts anderes als der Bubentraum, nicht mehr bei Vater und Mutter daheim zu wohnen.

Gleich gegenüber vom Verbindungsheim fand Vroni das Café Leopold. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster. Sie hatte wohl zu lange zum Eingang hinübergeschaut. Der Kellner stand an ihrem Tisch und räusperte sich. Was sie bestellen wolle. Vroni bestellte eine Melange. Der Kellner brachte den Kaffee. „Wissen Sie etwas über die Studentenverbindung da drüben.“ fragte Vroni. Der Kellner lachte. „Was weiß ich nicht über die von da drüben. Die sind doch dauernd hier im Hinterzimmer. Die haben Probleme mit der Heizung und deshalb kommen sie lieber zu uns herüber. Aber warum interessiert Sie das.“ „Nur so.“ sagte Vroni. „Ich glaube, ein alter Nachbar von mir ist da Mitglied.“ „Wie heißt er denn. Aber ich kann Ihnen wahrscheinlich gar nicht helfen. Ich höre immer nur, wie die einander mit ihren anderen Namen anreden.“ „Ich weiß, wie der heißt.“ sagte Vroni. „Ich glaube, der nennt sich Maximus.“ „A.“ rief der Kellner. „Das ist der Kleine. Ja. Der ist da manchmal dabei. Der kommt aber nicht so oft. Ist wohl schon zu alt.“

Vroni beugte sich vor und lächelte den Mann strahlend an. „Eigentlich.“ sagte sie. „Eigentlich. Wissen Sie. Eigentlich suche ich einen Studienkollegen… Wissen Sie….“ Der Kellner nickte. „Ich verstehe. Na. Dann kommen Sie doch morgen abend hier vorbei. Da sind die alle da.“

„Das werde ich machen.“ sagte Vroni.

1 Diese Folge ist der Transgender-Person Hande Kader gewidmet. Hande Kader setzte sich in der Türkei für die Rechte und den Schutz von Transsexuellen ein. Die verstümmelte und verkohlte Leiche Hande Kaders wurde am 21. August 2016 in Istanbul entdeckt. Seit 2008 wurden etwa 40 Transgender-Personen in der Türkei ermordet.