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13.10.2016

Wahlkampfroman 2016. „So wird das Leben.“ 11. Folge.

Wahlkampfroman 2016.

So wird das Leben.

Elfte Folge.1

Der Toni kam ein Wochenende nach Klagenfurt. Er hatte seine Jahresprüfung bestanden, aber das Semester hatte begonnen. Vroni und er mußten wieder nach Wien. Die Vroni bereute, in Wien inskribiert zu haben, aber es ließ sich nichts mehr ändern. Die Großmutter sollte im Krankenhaus bald wieder auf eine normale Station kommen können. In den Tests konnten keine MRSA-Keime mehr nachgewiesen werden. Die Tante Roswitha suchte schon nach einem Wohnheim für ihre Schwester, in dem sie dann nach dem Spital leben konnte. Die Tante beklagte den rechtlichen Zustand, der immer mehr Verantwortung an die Konsumenten und Betroffenen abwälzte, denen aber keine rechtlichen Möglichkeiten einräumte, sich zu wehren. „Das Spital gehört geklagt wegen dieser Infektion.“ sagte sie immer wieder. „Und dann Schmerzensgeld vom Land Kärnten für den Polizeitransport.“

Der Toni ging jeden Tag mountainbiken, aber die Vroni konnte wegen der Hand noch nicht mit. Beim Sonntagsfrühstück bei der Tante Roswitha meinte der Toni, die Vroni solle doch eine Psychotherapie machen. Nach dem Opferschutzgesetz stünde ihr das auch zu, und die Kristi hätte auch gemeint, daß die Vroni Hilfe bräuchte. Die Tante Roswitha fragte den Toni, „Ist das deine Freundin?“, und die Vroni sagte, „Noch nicht. Oder?“

Der Toni fuhr dann mit dem Mountainbike weg, und Vroni setzte sich auf die Veranda und las die Kronenzeitung. Sie wollten später alle gemeinsam ins Krankenhaus gehen und die Großmutter besuchen.

In der Kronenzeitung in der Rubrik „Lust und Liebe“ las sie, daß Betrug auch nur mit Emotionen möglich wäre. Die Vroni dachte gleich an den Toni und die Kristi. Sie wollte nicht, daß der Toni sich mit einer anderen Frau über ihre Probleme beratschlagte. Der Toni war ihr doch ihr Zwillingsbruder. „Gefühlsresourcen sind begrenzt!“ stand da. Das konnte Vroni sich aber auch nicht vorstellen. Sie fand die Kristi nett. Sie wollte nur nicht, daß sie sich zu sehr in ihre Angelegenheiten einmischte. Dann aber fiel ihr ein, daß sie das doch auch machte. Sie beriet sich mit Markus und mit dem Meran nicht. Aber mit ihm ging das ja gar nicht. Der Meran antwortete auf ihre langen E-mails nur ganz kurz und manchmal schrieb er überhaupt nur „Kisses“ und „xoxoxo“. Aber das hätte auch der Jim aus New York schreiben können. Der war ein Cousin von ihrem Vater und so etwas wie ein Onkel.

In der Sonntagsbeilage der Kronenzeitung war dann viel über die Muttergottes geschrieben. Im Horoskop stand unter „Krebs“, daß nachhaltige Veränderungen nur von ihr selbst ausgehen könnten und im politischen Teil wurde über ein Wahlsystem im Internet geschrieben.

Da waren die beiden Kandidaten wieder einmal zu sehen. Der Wahlkampf war ja aus der Öffentlichkeit verschwunden. Es waren kaum Wahlplakate zu sehen, und in den Medien war nur der Kampf Hillary Clinton gegen Donald Trump zu beobachten. In Österreich wurde über vorgezogene Parlamentswahlen gerätselt. Die ÖVP rechne sich bessere Chancen aus, hieß es. Die Tante Roswitha hatte schon gleich gesagt, daß die nur aus der Koalition mit den Roten herauswollten und wieder mit der FPÖ zusammengehen. Vroni fand das lustig, daß sie das Wort zusammengehen für die politischen Parteien verwendete. In der 3. Klasse Mittelschule hatte sie der Maurer Kevin gefragt, ob sie mit ihm „zusammengehen“ wollte, und sie hatte gesagt, daß sie ja schon ihren Bruder habe.

Auf den Bildern in der Kronenzeitung stand der grüne Kandidat mit hängenden Armen da. Das schaute hilflos aus. Der Höflein hielt seine Hände vorne übereinander und grinste mit so einem schiefgelegten Kopf. Das schaute kokett aus. Vroni fand es ganz normal, daß man im Internet abstimmen können sollte. Die Tante Roswitha konnte sich das nicht vorstellen. Dabei benutzte die Tante Roswitha das Internet selber viel mehr als die Vroni. Die Tante Roswitha bestellte ihre Lebensmittal im Internet und ließ sich alles nach Hause liefern. Für alte Leute, sagte sie, da wäre das alles eine richtige Erleichterung.

Die Vroni hatte zugehört gehabt, wie die Tante sich bei der Krankenkasse wegen ihrer ELGA-Abmeldung telefonisch erkundigt hatte. Dafür hatte die Tante sich schwerhörig gestellt und sich alles erklären lassen. Vroni war von ELGA, der elektronischen Gesundheitsakte nicht abgemeldet. Sie dachte, daß es vielleicht hiflreich sein könnte, daß ihre medizinischen Daten jederzeit zur Verfügung standen. Aber die Tante Roswitha sagte, daß sie sich abmelde, damit die Ärzte nicht einfach nur die Fehler der Ärzte davor weitermachen konnten. „Und Vroni.“ hatte sie gesagt. „Wenn du eine Psychotherapie machst wegen des Überfalls, dann wird jedes Symptom, das du hast, psychosomatisch ausgelegt werden. So ein Vorfall. Der ist dann festgeschrieben, und du wirst das nie wieder los. Ich kenne das. Nach dem Tod vom Michi haben sie mir alle gesagt, daß es nur die Trauer ist, und dann habe ich ja doch eine kalte Lungenentzündung gehabt und bin so lange im Spital gelegen. Man muß sich heute eben selbst behandeln. Aber dafür brauche ich keine elektronische Überwachung von mir. Und ich sag dir eins.“ hatte die Tante gemeint. „Wenn es so käme, wie die FPÖ das will, daß es nur mehr eine Krankenkassa gibt und die nur mehr für die Inländer gilt. Dann sind wir alle abgestempelt und ausgeliefert. Was glaubst du, was das dann für ein Datenverbund sein wird. Ungeheuerlich, wäre das.“

Bei den Adabei-Meldungen in der Sonntagskrone fand Vroni Fotos von der Hochzeit von H.C.Strache und seiner sehr jungen Freundin. Es war eine Trachtenhochzeit gewesen und Strache hatte kurze Lederhosen angehabt. Die Braut hatte ein weißes Brokatdirndl getragen und Orangensaft getrunken. Ob da vielleicht Nachwuchs erwartete würde, fragte der Kolumnist. Vroni fragte sich, warum dieser Mann überhaupt geheiratet hatte, und dann noch dazu so kitschig. Die FPÖ lehnte ja den österreichischen Staat ab und wollte nach der „Durchforstung“ aller Bereiche eine neue Staatsform einführen. Wie konnte der Vorsitzende dieser Partei vor einem österreichischen Beamten oder einer Beamtin „Ja“ sagen. Daß nicht kirchlich geheiratet worden war, das war wegen der antiklerikalen Einstellung. Aber das Standesamt. Das hieß ja, daß man die Autorität dieses Staats anerkannte. „Und sich das Jawort zu geben, zeigt der ganzen Welt, daß man bedingungslos zueinander steht.“ sagte der Bräutigam. Vroni mußte lachen. „Sich das Jawort zu geben.“ Das hieß es sich selber zu geben und nicht einander. Das war dann ein Ja, das nichts galt. Aber dieser Mann war ja auch schon einmal verheiratet gewesen, und diese erste Frau war in die Wahlkämpfe für ihn gezogen und hatte in Fernsehdiskussionen für ihn argumentiert.

Vroni war auf der Veranda langweilig. Sie zählte die Anzeigen auf Seite 69. Von den 43 Sexanzeigen mit Foto waren 31 für „Asiagirls“. „Neuimportiert“ stand da. Oder es hieß, „Neue geile Asiagirls eingetroffen.“ Vroni wußte, daß Sexarbeiterinnen sofort einen vorläufigen Aufenthalt bekamen. Aber sie mußten Sexarbeiterinnen bleiben. Wenn sie das nicht mehr machen wollten, mußten sie das Land verlassen. Das war das Modell, daß die Höflein-Partei für alle Personen anwenden wollte, die sie Ausländer nannten. Die Tante Roswitha hatte gesagt, daß es aber gar nicht um die sogenannten Ausländer ginge. Die Frage um den Aufenthalt würde deshalb aufgebauscht, damit man dann ein Instrument gegen die eigenen Leute in der Hand habe. Der prekäre Aufenthalt für die anderen würde sehr schnell zum prekären Aufenthalt für alle gemacht werden, und dann gäbe es wieder vertriebene Personen, weil man dann die Kritiker und Kritikerinnen aus dem Land jagen könne. Der Toni hatte die Tante Roswitha eine Schwarzmalerin genannt, aber die Tante hatte gesagt, „Hast du dir vorstellen können, daß man sich gegen die Polizei wehren muß, wie bei deiner Großmutter?“ Der Toni hatte diese Geschichte gar nicht richtig begriffen gehabt. „Weil du nie richtig zuhörst. Wie willst du das denn mit deinen Patienten machen?“ fragte die Tante. Der Toni hatte gelacht und hatte sein Mountainbike geholt. „Willst du nicht die Sprechstundenhilfe bei mir werden.“ hatte er gerufen, und die Tante hatte lachen müssen.

Die Frage wegen der Psychotherapie ließ Vroni dann aber keine Ruhe. Sie fürchtete sich auch vor den Folgen und wie das sein würde, wenn sie den Kriminellen bei der Polizei anzeigen sollte. Sie hatte Angst davor, diesen Mann wieder sehen zu müssen. Aber Vroni konnte das nicht mit der Tante besprechen. Die Tante hatte sich hingelegt und ruhte sich aus. Die Mama war bei einem Seminar über Personalführung auf dem Semmering. Mit Kristi wollte sie jetzt einmal nicht reden. Vroni textete dem Markus, ob er ihr einen Rat geben könnte. Der Markus rief sie gleich an, und sie redeten lange. In das Gespräch hinein klopfte Meran an. Vroni verwechselte die Tasten und beendete unabsichtlich beide Gespräche. Vroni schaltete dann ihr handy ab und überlegte. Sie schaute auf die Herbstblumen im Garten von der Tante Roswitha und wußte nicht, wen von den beiden Männern sie als ersten anrufen sollte.

1Diese Folge ist dem saudischen Blogger und politischen Aktivisten Raif Badawi stellvertretend für alle inhaftierten und gequälten Personen gewidmet, die den jeweiligen Regimes nicht genehm sind.