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08.09.2016

Wahlkampfroman 2016. „So wird das Leben.“ 6. Folge.

Wahlkampfroman 2016.

So wird das Leben.

Sechste Folge.1

Vroni war vom Bäcker gekommen. Sie hatte ihren rechten Arm wieder in die Schlinge gelegt. Es tat weh, wenn sie die Hand beim Gehen baumeln ließ, und sie hatte Angst irgendwo anzustoßen. Vroni merkte immer wieder, wie sie die Hausmauern entlang ging und entgegenkommenden Personen weit auswich. Sie versuchte dann, den Kopf zu heben und nicht so geduckt dahinzuschleichen, aber sie entdeckte sich bald wieder an einer Hausmauer und wie sie schützend ihre gesunde Hand vor die verletzte hielt. Deshalb trug Vroni das Sackerl mit den Briochekipferln so vor der Hand in der Schlinge als sie vor das Haus kam. Ein Krankenwagen stand da. Zwei Zivildiener hatten gerade den Tragesessel mit dem Chrobath aus dem Krankenwagen gehoben. Der alte Mann schimpfte schon wieder und Vroni blieb stehen, um nicht von ihm gesehen zu werden.

„Seicherln.“ rief der alte Mann. „Ihr seid’s doch so linke schwule Seicherln. Keinen Dienst an der Waffe. Das Vaterland nicht verteidigen. Lieber alte Leut herumschieben…“ „Haben Sie Schmerzen?“ fragte der eine Zivildiener. „Wenn ich Schmerzen hätte, würde ich schreien.“, fauchte Chrobath den jungen Mann an.

Die zwei Zivildiener hoben den Tragesessel an und begannen den alten Mann über die Stufen zum Hauseingang hinaufzutragen. Da kamen vier junge Männer von hinten und stellten sich den Zivildienern mit dem Chrobath auf dem Tragesessel in den Weg. Zwei hielten die Zivildiener an. Zwei drängten sie vom Tragesessel weg. Einen Augenblick stand der Tragesessel auf den Stufen und drohte umzustürzen. Vroni hatte unwillkürlich einen Schritt in Richtung des alten Manns gemacht. Sie mußte einen kleinen Schrei ausgestoßen haben. Alle jungen Männer hatten sich ihr zugewandt. Die Zivildiener in der roten Rotkreuzuniform. Die vier anderen trugen Sakkos und hatten eine Verbindungsschleife über die Krawatte gebunden. Dann übernahmen sie den Tragesessel. Zwei hoben den alten Mann hoch. Einer hielt die Tür auf. Der Vierte drehte sich noch einmal zu Vroni um. Dann verschwanden alle im Haus. Vroni versuchte, die Armschlinge hinter dem Bäckersackerl zu verstecken. Sie hatte plötzlich eine lebhafte Erinnerung an den anderen Mann beim Überfall an der Tür und wie der die Stiegen hinunter gelaufen war. Niemand sollte sehen können, daß sie das Opfer war.

Die Zivildiener gingen hinter den Burschenschaftlern her. „Den Sessel“, rief der eine. „Was soll das?“ der andere. Die vier jungen Männer eilten mit dem alten Mann hinauf. Der lehnte sich zurück und grinste.

Vroni ging dann auch ins Haus. Von unten schaute sie der Prozession zu. Chrobath wurde hinaufgetragen als würde eine Verfolgung stattfinden. Die Zivildiener gingen langsamer hinter der Gruppe um Chrobath her. Sie sprachen leise miteinander. Sie schüttelten die Köpfe und der dunkelhaarige lachte.

Vroni ging der Gruppe nach. Vom Stiegenabsatz in den dritten Stock aus sah sie, wie einer der jungen Männer die Wohnungstür aufsperrte. Die Alarmanlage schlug an. Chrobath sagte etwas. Die Alarmanlage hörte auf. Alle verschwanden in der Wohnung. Die Wohnungstür wurde zugeschlagen. Die Zivildiener waren gerade vor der Wohnungstür angelangt. Der dunkelhaarige junge Mann läutete. Das Schrillen der Glocke war zu hören. Niemand kam an die Tür. Der blonde Zivildiener schlug mit der Hand gegen die Tür. „Der Sessel“, rief er. Immer wieder „Der Sessel. Wir brauchen den Sessel.“

Vroni war im dritten Stock angekommen und war schon auf den Stufen zum vierten Stock. Die Tür zu Chrobaths Wohnung ging auf. Der Tragesessel kam herausgefahren. Die Zivildiener hatten nicht damit gerechnet und der Sessel fuhr dem blonden gegen die Beine. „Au“, schrie er. „Scheiße.“ Einer der vier Burschenschafter beugte sich aus der Tür. Er schaute den blonden Zivildiener an. Er musterte den dunkelhaarigen. Dann richtete er sich auf und wandte sich von den beiden Männern ab als hätte er etwas schrecklich Ekelhaftes ansehen müssen. Vroni sah, wie er im Wegdrehen schon zufrieden lächelte und da wußte Vroni, daß es darum ging. Es ging um diesen Ekel.

Die Zivildiener merkten diesen Blick gar nicht. Sie schienen sich nicht einmal über den Vorfall zu wundern. Der blonde Zivildiener schob den Tragesessel. Der andere ging zum Lift und drückte auf den Knopf. Er drehte sich um und sah Vroni.

„Brauchen Sie Hilfe.“ fragte er. Er kam zu ihr gegangen. Vroni holte tief Luft. „Nein. Nein.“ Sie drehte sich um und stieg die Stufen weiter hinauf.

Oben angekommen konnte Vroni sich nicht vorstellen, in die Wohnung zu gehen. Der Gedanke, daß alle diese Männer in der Wohnung unter ihr herumgingen. Vroni stand vor ihrer Wohnungstür, da kam Frau Fischer auf den Gang. Sie schaute Vroni an und fragte, „Du hast doch nicht geweint. Oder?“ Dann sagte sie, „Heute ist offenkundig Tränentag. Komm.“ Sie schob Vroni in ihre Wohnung. „Es ist schon die Kristi bei der Mia und heult. Da kannst du gleich mitweinen. Ich muß leider weg.“

„Brauchst du auch einen Kaffee?“ rief Mia aus der Küche. Im Wohnzimmer stand eine junge Frau am Fenster und schaute mißmutig hinaus. „Das ist die Kristi.“ sagte Mia und schaute ins Wohnzimmer herein. „Sie hat Ärger mit ihrem Chefredakteur. Der will einen Beitrag von ihr nicht bringen. Der Kaffee ist jetzt fertig. Holt ihr ihn euch? Ich weiß nicht, wie du deinen Kaffee nimmst.“

Vroni ging zu Mia in die Küche. Kristi kam nach. „Das ist die Vroni.“ sagte Mia zu Kristi. „Sie ist gerade vor der Wohnungstür nebenan zusammengeschlagen worden. Aber sie will nicht darüber reden.“ Dann stellte Mia sich vor Vroni. „Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht!“ Mia starrte Vroni entsetzt an und weil Vroni den beiden Frauen erklären wollte, warum es notwendig gewesen war, sich die Haare abzuschneiden, mußte sie die ganze Geschichte erzählen. Sie erzählte, wie sie diesem alten Mann zu Hilfe hatte kommen wollen und deshalb den Schlag auf die Hand abgekriegt hatte. Wie der alte Mann sich gefreut hatte, daß es wenigstens jemanden aus der Familie vom Onkel Franz getroffen hatte, wenn schon diese dumme Verwechslung passiert wäre und nicht ihr Großonkel Franz niedergeschlagen worden wäre, sondern er selbst, weil er aus dieser Wohnungstür herausgekommen sei. Wie dieser Dr. Chrobath über die Ironie der Situation noch lachen hatte müssen, obwohl er doch verletzt gewesen war. Wie sie den Mann, der auf sie eingeschlagen hatte, dann doch erkannt und in der Studentenverbindung aufgefunden hatte.

„Das ist eine richtig üble Geschichte“, sagte Mia und schaute Kristi an. Kristi zuckte mit den Achseln. „Das ist doch auch so eine Geschichte, die niemand anrühren will. Wenn die schon einen Beitrag über einen Wahlkampfroman nicht nehmen, was glaubst du, was da los ist, wenn ich mit einer Geschichte von einem bestellten Überfall komme. Du hast ja wahrscheinlich keine Beweise.“ Vroni wollte ihre verletzte Hand heben, aber sie ließ es gleich bleiben. Einem Opfer wurde nicht geglaubt. Das hatten sich die Täter so eingerichtet. Sie fragte Kristi, was das für ein Problem mit dem Chefredakteur sei. „Ich habe eine Wiener Autorin zu einem Roman interviewt und weil der Roman sich mit den Auswirkungen der rechten Ideologie beschäftigt, ist der Beitrag nicht gekommen, weil der Chefredakteur keine Schwierigkeiten haben will. Gesagt hat er aber, daß der Beitrag wegen der journalistischen Qualität nicht genommen wird.“

Vroni nahm ausnahmsweise Zucker für ihre Nerven in den Kaffee. „Das ist so wie damals“, sagte sie. Man weiß heute, daß die Menschen in den 30er Jahren sehr viel mehr ahnten und wußten als es im Nachhinein den Anschein hat.“

„Ist das so?“ fragte Mia. „Es schaut doch immer so aus als hätte nie jemand etwas gegen die Nazis gesagt.“

„Wenn man zum Schutz des Volkes nur noch mit Verordnungen regiert und alle Gegner verhaftet hat und alle Medien gleichgeschaltet sind, dann kann nicht mehr viel gegen die Regierung gesagt werden.“ antwortete Vroni. „Ich wüßte nicht, was ich getan hätte, wenn ich damals auf der Welt gewesen wäre.“ sagte Mia und schenkte Kaffee nach. „Meine Mama sagte, daß es bei uns auch so kommen könnte. Daß der Bundespräsident die Macht genauso ergreifen könnte wie das mit diesem Hindenburg und dem Hitler passiert ist. Das hast du doch gemeint, Vroni. Oder?“ Vroni nickte nur. Sie war wieder schrecklich müde und sie kam sich dumm vor, weil sie alles erzählt hatte und sich ja doch nichts geändert hatte.

Kristi war wieder zum Fenster gegangen und hatte hinausgeschaut. Dann wandte sie sich um und kam zu Vroni. „Wir müssen etwas mit deinen Haaren machen“, sagte sie. „sonst erkennt dich der doch noch.“ „Am besten wohnst du überhaupt hier herüben.“ sagte Mia. „Du kannst auch zu mir kommen, wenn du magst“, sagte Kristi. Vroni schüttelte den Kopf. „Dann würde ich mich vertreiben lassen.“ sagte sie. „Und dann trifft es den Onkel Franz doch noch.“

Dann berieten Mia und Kristi, was mit Vronis Haaren zu machen sei. Vroni saß auf dem Sofa und hörte zu. Kristi war dafür, Vroni eine Punk-Frisur zu verpassen. Mia meinte, Vronis Haare sollten blondiert werden und zurechtgeschnitten, weil Vroni dann am meisten verändert aussehen würde. „Eine Punk-Frisur. Da schauen doch alle hin. Wenn wir aus der Vroni eine ordentliche Tussi machen, dann wird sie am besten übersehen.“

Mia ging, Haarfärbemittel zu kaufen. Kristi begann an Vronis Haaren herumzuschneiden. Dann rief Toni an und wollte wissen, ob es Vroni gut ginge. Da mußten alle lachen und riefen, daß der Toni sich nicht schrecken dürfe, wenn er nach Hause käme. Er würde die Vroni sicher nicht wiedererkennen. Was da los sei, wollte der Toni wissen und Kristi erklärte ihm warum Vroni ihr Aussehen verändern musste. Der Toni regte sich fürchterlich auf. Seine Schwester hätte ihm das alles selber sagen sollen. Vroni hatte gleich noch mehr schlechtes Gewissen. Dann mußten sie aber wieder lachen. Vroni sah mit den blonden Haaren so brav aus. Sie schaute sich in den Spiegel und fragte, ob ihr nun von alleine eine Perlenkette wachsen würde. „Nein. Eher ein Dirndl“, lachte Mia und schlug vor, gleich in das Kaffee Leopold zu gehen und auszuprobieren, ob der Kellner die Vroni wiedererkennen würde. Aber Vroni tat die Hand weh und sie wollte wieder die Handgymnastik im warmen Wasser machen. Sie versprach, niemandem die Tür aufzumachen und ging in die Wohnung vom Onkel Franz zurück. Mia und Kristi blieben vor der Tür stehen und warteten bis Vroni alle Schlösser an der Wohnungstür hinter sich versperrt hatte.

Vroni ließ gerade das lauwarme Wasser in das Waschbecken ein, da läutete es. Vroni dachte, Kristi und Mia wollten sich einen Spaß machen. Sie ließ das Wasser rinnen und lief zur Tür. „Ich mache sicher nicht auf“, rief sie. „Ich mache mir Sorgen.“ hörte sie einen Mann draußen sagen. Vroni schaute durch den Spion auf den Gang hinaus. Ein Mann stand draußen. „Ich war vorhin da“, rief der junge Mann. „Ich bin der von der Rettung.“ Da erkannte Vroni ihn wieder. Das war der dunkelhaarige von den beiden Zivildienern. Was wollte der von ihr?

1 Diese Folge ist Freddy Mercury stellvertretend für alle Opfer der Aids-Epidemie gewidment, die heute noch leben könnten, hätte die Bekämpfung dieser Epidemie nicht erst alle diese verquälten und diskriminierenden Sexphantasien einer postchristlich fundamentalistischen Öffentlichkeit überwinden müssen.